Herrn Burgers Vergessen

 

Herr Burger hat im Standard eine Debatte ausgelöst, die mir paradigmatisch für den gesamten Diskurs über die faschistische Vergangenheit und die demokratische Gegenwart erscheint. An den jeweiligen Polen dieses Diskurses stehen zwei Positionen, deren eine durch die Haltung des „Nie vergessen“, „Nie wieder“ und „Wehret den Anfängen“ gekennzeichnet ist, die andere durch die Suche nach Rechtfertigung mittels Aufrechnung und Vergleich oder wenigstens durch das Verlangen, einmal müsse ein Schlussstrich gezogen werden können.

Zwischen diesen beiden Positionen nimmt nun Herr Burger die Stellung des engagierten Schiedsrichters ein; unverdächtig, wo ihn doch keins irgend welcher Sympathien für die Hitlerei zeihen kann, preist er die wohltuende Wirkung der Amnestie, führt sie an historischen Beispielen vor und fordert kein apodiktisches „Schluss der Debatte“ sondern eine kollektive Anstrengung auf dem Weg in eine staatsbürgerliche Normalität.

Mir liegt nun daran, diesen Gedanken zu verfolgen und zu prüfen.

Zunächst einmal muss fest gehalten werden, dass es sich wohl nur um eine Analogie handeln kann (der unvergleichliche Khol würde sagen: „Nicht alles, was hinkt, ist schon ein Vergleich“ – und er sagt es immer an der falschen Stelle). Amnestie, so wie von Herrn Burger in seinen historischen Beispielen verwandt, war ein Rechtsinstrument, das für alle bindend war; Verstöße dagegen wurden mit Sanktionen belegt. Es war zudem ein Rechtsinstrument von Zeiten und Gesellschaftsformationen, deren Rechtsempfinden noch tief im persönlichen Ausgleich persönlich erfahrener Kränkungen fusste, von Gemeinwesen, die übersichtlicher, dafür aber persönlich dichter verwoben waren als die heutigen. Da mag es schon sinnvoll gewesen sein, wo der Schutz der Anonymität nicht hinreichend war, ein Überleben zu sichern, mit kollektivem Vergessen schandbarer Taten nach der Wiederherstellung der sozialen Ordnung die Krise der Gemeinschaft für überwunden zu erklären.

In unserem Rechtsempfinden fehlt das Verständnis für einen solchen Ansatz völlig. Die Unschuldsvermutung (wozu natürlich auch die zweite Chance nach verbüsster Strafe gehört) langt hin, um den Wunsch nach krisenfreier Gerechtigkeit zu befriedigen. Herr Burger wird das wissen, und er wird die Amnestie nicht als Rechtsinstrument wieder einführen wollen, ebenso wenig wie das Duell oder die Verbannung.

Wenn er nun also diese Analogie anbietet, wohl wissend, dass der Diskurs um faschistische Vergangenheit und demokratische Gegenwart keine biologische Lösung erfährt, denn Täter wie Opfer haben ihre Nachkommen und geben daher ihre Erfahrungen und Erinnerungen als Erbe weiter – es entsteht Geschichtswirksamkeit -; wenn Herr Burger nun also diese Analogie anbietet und eine segensreiche Wirkung erwartet oder wenigstens eine normalisierende, stehen wir vor zwei Fragekreisen:

Was sind die Motive für diesen Diskurs?

Was sind die Motive für so eine Lösung?

Jeder Krieg vor dem II. Weltkrieg konnte noch, auch wenn er moralisches Entsetzen, Revolutionen, Schübe von Pazifismus und Defaitismus auslöste oder mit Kriegsverbrechen verbunden war, mit einer Art Amnestie, nämlich dem Friedensvertrag bewältigt werden. Der II. Weltkrieg aber ist untrennbar mit dem monströsen Verbrechen des Völkermords an der jüdischen Bevölkerung Europas verbunden. Die Bewältigung dieses Kriegs schliesst die Bewältigung des Völkermords mit ein. Und das wird schwer. Der Krieg kann nicht mehr mit der Darstellung der Kriegsschuld der treibenden politischen nationalen Fraktionen bewältigt werden, wie es noch Fritz Fischer in seiner Analyse der deutschen und österreichischen Politik, die zum I. Weltkrieg führte, vermochte.

Der II. Weltkrieg entzieht sich dieser Art der Rationalisierung, und daraus resultiert auch die Fassungslosigkeit und Sprachlosigkeit des Antifaschismus, sei er nun staatstragend oder autonom. Wo nämlich die Rationalisierung versagt, bleibt nur ein dumpfes Gefühl über, das noch nicht in ausreichendem Maß zu sich gefunden hat; der Ruf „Nie wieder Faschismus“ ist in dieser Gefühlslage nicht nur der Ruf der beherzt Kämpfenden, er ist auch der Ruf der Ängstlichen, die sich über die Verquickung mit einem Völkermord nicht Rechenschaft ablegen konnten, nicht wissen, wie und warum es dazu gekommen ist, die diese Erbschaft tragen, und ihr Ruf ist die flehentliche Bitte, es möge nie wieder dazu kommen, weil sie den Verdacht hegen, was einmal passiert ist, könnte wieder passieren.

Wo also dieser Verdacht besteht, eine Gesellschaft, die im Herzen der bürgerlichen Metropolen diesen Völkermord zugelassen hat, hielte sich nicht mehr ausreichend im Bann, wird das Verlangen nach nie wieder Faschismus zum sprachlosen Stammeln. Wo noch zu rationalisieren versucht wird, wo auf andere Völkermorde verwiesen wird, seien es die an den Indianern, seien es die an den Armeniern (übrigens wie die Juden allegorische Figuren des internationalen Kapitals und der Vaterlandslosigkeit, bloß Christen), geschieht dies unter dem Prätext, das eigene Verbrechen klein zu reden. Nur es verfängt nicht.

Denn das Skandalöse, das Traumatische, das Unbewältigbare am Völkermord an der jüdischen Bevölkerung Europas ist der Ort, an dem er statt gefunden hat, und seine Reinheit. Während andere Massaker noch gerechtfertigt werden konnten mit dem Hinweis auf eine überlegene Zivilisation, die ihre Segnungen ausschüttet, und es würde sich bloß um Reibungsverluste im Zuge der Modernisierung am Rand der Welt handeln, so ist die Ausrottung der Juden im Zentrum dieser Welt geschehen, und das war hinreichend modern und zivilisiert. Es lebt nun diese Metropole nicht nur unter der Last ihrer historischen Schuld, sondern auch unter dem Verdacht, dies könnte sich wieder ereignen. Und so ist der Ruf „Wehret den Anfängen“ zu verstehen – nicht selbstbewusst, nicht kämpferisch, sondern ängstlich. Und so ist auch das Wuchern des Faschismusvorwurf zu deuten: trägt nicht schon jede kriegerische Auseinandersetzung den Keim des Völkermords in sich; ist nicht schon jedes Vorurteil faschistisch?

In diese Gemengelage stösst nun Herr Burger mit seinem Vorschlag, und seine Motive können als durchaus ehrenwert angesehen werden. Ihm geht es wohl darum, dass eine bürgerliche Normalität Raum greift. Amnestie, gemeint als ein Akt kollektiven Vergessens in einer gemeinsamen, verpflichtenden Anstrengung, soll dazu die Voraussetzungen schaffen. Der Blick soll sich in die Zukunft richten, die Toten sollen ihre Toten begraben (um die Bibel zu Wort kommen zu lassen). Dies ist – wohlgemerkt – noch nicht Versöhnung. Aber es ist der Ort und der Raum bürgerlicher Politik und Sozietät, ihrer Konkurrenz und Auseinandersetzung in geordneten, verfassten Bahnen.

Aber gut gemeint ist das Gegenteil von gelungen.

An zwei Ecken spiesst sich die ganze Angelegenheit. Zum einen (ich habe oben von der Amnestie zur Wiederherstellung der sozialen Ordnung gesprochen) fehlt schlicht und einfach für die gemeinsame Anstrengung des kollektiven Vergessens die andere Partei. Zu gründlich ist der Völkermord durchgeführt worden. Wo aber die Partnerschaft zum gemeinsamen Vergessen fehlt, verkommt das Vergessen der übrig Gebliebenen zum Verdrängen mit allen unschönen Folgen.

Und diese Folgen stellen das zweite Eck dar, an denen sich Herrn Burgers Vorschlag spiesst, diese Folgen sind genau jener sprachlose Diskurs, der Vergangenheitsbewältigung genannt wird, und in den Herr Burger nolens volens involviert ist. Natürlich ist seine Argumentation einsichtig, aber letztlich auch wieder nur geprägt von den Eckpfeilern dieser Auseinandersetzung. Und wo nun weder ein antifaschistisches Raisonnement erheischt wird, noch ein dieses Raisonnement hervor bringendes leichtfertiges oder apologetisches Umgehen mit der faschistischen Geschichte, wünscht sich Herr Burger ein Verstummen der Vergangenheit, wenn er auch keine geschichtsrevisionistische Position zu beziehen bereit ist. Aber was er will, so verständlich der Wunsch ist, gibt es nicht. Er will geordnete, verfasste Verhältnisse, die in die Zukunft weisen. Er will eine bürgerliche Normalität, die mit einschliesst, dass Österreich von sich selbst und anderen nicht anders behandelt und angesehen wird als irgend eine bürgerliche Demokratie, wie es genug mit ihren Stärken und Schwächen gibt. Dem steht die unausgesprochene Angst des „Nie wieder“ entgegen, selbst wenn sie Herrn Burgers Wünsche teilt.

Wie nun aber mit der Angst umgehen? Auch sie gemeinsam vergessen? Wenn ihr der Verdacht zu Grunde liegt, dass der schlecht gereimte Schoß noch immer fruchtbar ist, dann wird die Hinkehr zur bürgerlichen Normalität keine Perspektive anbieten, weder durch ängstlichen Antifaschismus, der auch nur flehentlich darum bittet, es bei der Demokratie zu belassen, noch durch die voluntaristische Pose Herrn Burgers, die diese Demokratie qua Willensanstrengung dekretiert, mit dem Rücken zum Geschehenen. Dieser Verdacht wird sich nur ausräumen lassen, wenn wir uns auf Gegenwelten zum bürgerlichen Universum besinnen, das in einer seiner Metropolen dieses monströse Verbrechen begangen hat und das für uns nicht mehr viel bereit hält, dessen sich zu erinnern lohnt.